Den Tod ins Leben lassen.

Karfreitagspredigt 2019

Es gibt diese Dinge, mit denen man am liebsten nichts zu tun haben möchte. Weil sie zu nah kommen. Manche Themen, mit denen ich mich lieber nicht beschäftige. Manche Bilder, die ich nicht so schnell aus meinem Kopf bekomme, weil sie mir viel zu nah gehen. Die vom Kopf ins Herz wandern, wo selbst Tränen sie nicht rausschwemmen können. Bilder vom Tod. Schreckliche Bilder von menschlichem Leid, von Brutalität und von Unglück. Und die steigen auch auf in diesen Liedern, die selten genug gesungen und diesen Bibeltexten, die selten genug gelesen werden, weil sie nicht nur thematisieren, was ein Mensch dem anderen antut, sondern anschaulich davon erzählen.

Es gibt diese Dinge, die manchmal zu nah kommen und mit denen man am liebsten nichts zu tun haben und die man am liebsten weder sehen noch fühlen möchte. Und heute ist der Tag, an dem das alles anders ist. In dem ein paar dieser Texte gelesen und ein paar dieser Lieder gesungen werden. Heute ist der Tag, an dem Bilder hinter die Augen gemalt werden von einem, der verraten und verkauft, geschlagen und verletzt wird, mit den Farben von Qual und Schmerzen, Schuld und Angst. Was Menschen einander antun und was Menschen erleiden, das kann man hier sehen. Das ist echt und das geht nah.

Was nah geht, braucht Zeit, um verarbeitet zu werden. Sieben Wochen Zeit nehmen sich Christinnen und Christen auf der ganzen Welt, um sich an das Leiden und Sterben Jesu zu erinnern. Das, was im Grunde keine vierundzwanzig Stunden gedauert hat, bekommt Raum für sieben Wochen, das sind (Sonntage nicht eingerechnet) neunhundertsechzig Stunden! Es braucht vierzig Mal so viel Zeit, um begreifen zu können, was nicht zu fassen ist. Vierzig Mal so viel Zeit, sich dem zu nähern, das uns nicht nahe kommen soll. Und manchmal braucht es Zahlenspielereien, weil der Tod jede Ordnung ins Chaos stürzt und über jede Grammatik erhaben ist.

Das gilt auch für den Tod Jesu, von dem der Predigttext erzählt. Auch hier braucht es Zeit. Neunzehn Verse, drei- bis vierhundert Wörter, um zu erzählen, was vor dem Tod geschieht, der selbst in nur einem Vers passiert. Nur eine Handvoll Wörter. Der Tod braucht nicht viel Zeit.

Joh 19,15b-30 (NGÜ)
»Euren König soll ich kreuzigen lassen?«, fragte Pilatus. »Wir haben keinen König außer dem Kaiser!«, entgegneten die führenden Priester.
16 Da gab Pilatus ihrer Forderung nach und befahl, Jesus zu kreuzigen. Jesus wurde abgeführt. 17 Er trug sein Kreuz selbst aus der Stadt hinaus zu der so genannten Schädelstätte; auf hebräisch heißt sie Golgata. 18 Dort kreuzigte man ihn und mit ihm zwei andere, einen auf jeder Seite; Jesus hing in der Mitte.
19 Pilatus ließ ein Schild am Kreuz anbringen, das die Aufschrift trug: »Jesus von Nazaret,  König der Juden.« 20 Dieses Schild wurde von vielen Juden gelesen; denn der Ort, an dem Jesus gekreuzigt wurde, war ganz in der Nähe der Stadt, und die Aufschrift war hebräisch, lateinisch und griechisch abgefasst. 21 Die führenden Priester des jüdischen Volkes erhoben Einspruch. »Es darf nicht heißen: ›König der Juden‹«, sagten sie zu Pilatus. »Schreibe: ›Dieser Mann hat behauptet: Ich bin der König der Juden.‹« 22 Pilatus erwiderte: »Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.«

23 Die Soldaten, die Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und teilten sie unter sich auf; sie waren zu viert. Beim Untergewand stellten sie fest, dass es von oben bis unten durchgehend gewebt war, ohne jede Naht. 24 »Das zerschneiden wir nicht«, sagten sie zueinander. »Wir lassen das Los entscheiden, wer es bekommt.« So sollte sich erfüllen, was in der Schrift vorausgesagt war: »Sie haben meine Kleider unter sich verteilt; um mein Gewand haben sie das Los geworfen.« Genau das taten die Soldaten. 25 Bei dem Kreuz, an dem Jesus hing, standen seine Mutter und ihre Schwester sowie Maria, die Frau von Klopas, und Maria aus Magdala. 26 Als Jesus seine Mutter sah und neben ihr den Jünger, den er besonders geliebt hatte, sagte er zu seiner Mutter: »Liebe Frau, das ist jetzt dein Sohn!« 27 Dann wandte er sich zu dem Jünger und sagte: »Sieh, das ist jetzt deine Mutter!« Da nahm der Jünger die Mutter Jesu zu sich und sorgte von da an für sie.

28 Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war. Und weil sich das, was in der Schrift vorausgesagt war, bis ins Letzte erfüllen sollte, sagte er: »Ich habe Durst!« 29 Da tauchten die Soldaten einen Schwamm in ein Gefäß mit Weinessig, das dort stand, steckten ihn auf einen Ysopstängel und hielten ihn Jesus an den Mund. 30 Nachdem er ein wenig von dem Essig genommen hatte, sagte er: »Es ist vollbracht.« Dann neigte er den Kopf und starb.

Viele dieser vierhundert Wörter sind Verben. Tu-Wörter. Solche, die etwas tun und die zeigen, was passiert: Da wird gelesen und geschrieben, es wird gesprochen, befohlen, gefragt und Einspruch erhoben, gelost und geteilt, sich gekümmert und füreinander gesorgt. Und es wird gestorben. Mitten im Leben. Von der einen auf die andere Minute ist alles anders.

„Ich war nur eben schnell aus dem Zimmer gegangen“, erzählte eine Witwe. Als sie zurückkam, war ihr Mann tot. Er war ganz allein gestorben. Ganz allein und nicht einsam. Allein, selbstbestimmt. Zum letzten Mal. In den letzten Monaten hatte er alles noch geregelt, sich um alles gekümmert. Als hätte er es gewusst.
In die Traueranzeige hat sie geschrieben: Lasst mir einen Platz zwischen euch, so wie ich ihn im Leben hatte. Er hatte es sich gewünscht. Und genau so wird es für sie sein. Nie wird sie ihn vergessen und er wird weiterleben in ihrer Erinnerung. Wenn sie ihn sucht, wird sie ihn im Herzen finden. Da, wo die Erinnerungen sind. Dort wird sie dann mit ihm wieder ans Meer fahren, so wie damals, vor vielen Jahren. Der erste gemeinsame Urlaub. So viele Jahre mit diesem Menschen, der ihr alles war. Dem sie alles war.

Was wird bleiben, wenn die Erinnerungen verblassen? Wenn Stimmen leiser und Düfte schwächer werden? Was bleibt von einem Menschen, wenn die Erinnerungen nur noch Gedanken sind?

Vielleicht holt sie immer noch jedes Jahr am Hochzeitstag die Kiste mit den Bildern aus dem Schrank. Zündet an seinem Geburtstag eine Kerze für ihn an. Und vielleicht pflanzt sie im Garten endlich die Sonnenblumen, die er schon immer haben wollte.

Vielleicht machen wir das heute so ähnlich. Hören zu, wie das damals war. Sehen die Bilder an. Die, über die wir lachen und die, die zum Heulen sind oder zum Fürchten. Wir erinnern uns. Lassen die Erinnerungen lebendig werden, gehen den ganzen Weg noch einmal mit, Schritt für Schritt. Erinnerung für Erinnerung. Das tut weh und das tut gut. Wie war das, mit Jesus? Wir sehen den Jordan und zwei Menschen mittendrin und hören Worte wie ein Sommerregen von oben: Das ist mein geliebter Sohn. Hören alle sich des Lebens freuen, denen Jesus es wiedergegeben hat. Stehen wieder mitten unter denen, die Palmwedel schwenken und Hosianna schreien, sitzen im Garten neben den schlafenden Jüngern, hören die Schwerter klappern, als die Soldaten anrücken, die Frage des Hohepriesters durch die Hallen poltern: Bist du der Christus, der Sohn Gottes?, hören den Chor der Männer und Frauen hoch zum Balkon: Lass ihn kreuzigen!, und die Schläge auf einen Körper, der sich nicht wehrt. Ein Hammer, der Nägel in Holz schlägt. Rangelnde Soldaten, die an Kleidungsstücken zerren. Ihre Füße, die über den Sand scharren. Und einer, der seine letzten Worte spricht: Es ist vollbracht. Und die Welt steht still für einen Augenblick. Einen Moment nur ist alles ruhig. Noch nicht mal ein Flüstern. Totenstille. Und das Leben geht danach trotzdem weiter. Das Leben geht weiter. Unterm Kreuz.

Unterm Kreuz ist der Ort, an dem die Verzweifelten neben den Gefassten stehen, hier treffen sich das ganze Elend des Menschseins, das Ausgeliefertsein an das, was Leben zerstört und die Hoffnung darauf, dass das nicht alles gewesen sein kann. Unterm Kreuz werden Menschen befreit. Befreit von dem lähmenden Blick in die Vergangenheit, befreit vom beängstigenden Blick in eine unsichere Zukunft. Unterm Kreuz werden Menschen aus der Totenstarre befreit. Sie werden frei, den Tod nicht zu fürchten und das Leben zu lieben. Weil Gott Leben schenkt und Leben liebt und er dir deine Schuld vergibt und weil er sich an deine Seite stellt.
Unters Kreuz, wo wir jetzt stehen. Und die Fragen kommen.
Was war? Was wird sein? Was ist? Das ist nicht mehr. Denn Gott nimmt unsre Zeit in seine Hände. Unterm Kreuz verschwinden die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Hier wird der Raum weit, in den er uns stellt und der Boden fest, auf dem wir stehen.
Unterm Kreuz.
Heute ist der Tag, an dem wir etwas länger als sonst unterm Kreuz stehen.
Jetzt ist die Zeit, in der wir aushalten, womit wir sonst am liebsten nichts zu tun haben wollen.
Drei Tage lang.
Gefühlt: Eine Ewigkeit.

Amen.

Im Ende ein Anfang

Predigt zu Phil 1,3-11 am 23. Oktober 2016 zur Verabschiedung in der Ev. Emmaus-Kirchengemeinde Willich am Ende des Probedienstes

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.

„In jedem Ende steckt auch ein Anfang“, sagen die Leute, die es ja nur gut meinen, wenn etwas zu Ende geht. Sie sagen es in diesen Zeiten und Momenten im Leben, in denen man gar nicht so richtig weiß, ob man jetzt lachen oder weinen soll. Und noch bevor sie wieder Luft und Hermann Hesse aus der Tasche holen können, sage ich: „Stopp!“ Im Anfang wohnt kein Zauber. Höchstens Schweiß, Blut und Tränen. Davon können Menschen ein Lied singen, die gerade Eltern geworden sind und das können auch eine Gemeinde und eine Pfarrerin, die sich voneinander verabschieden.
Wenn etwas zu Ende geht, sieht man meistens vor allem das, was war und das nicht mehr sein wird. Meistens ist das Gefühl dazu trostlos, die Perspektive aussichtslos und Herz und Mund sind sprachlos. Was soll man auch sagen?

Lernen und Worte klauen kann man vom Apostel Paulus. Der schreibt nämlich in einer Situation, die für ihn genau so ist, nämlich trostlos und aussichtslos. Er sieht dem Ende entgegen – in dem Fall dem Ende seines eigenen Lebens, schaut zurück auf das, was war, zieht so eine Art Resümee und wagt einen mutigen Blick Richtung Zukunft. Die Worte, die er dafür findet, könnten heute auch meine sein. Oder eure.

Ich lese den Anfang (also das, was nach der Anrede kommt) des Philipperbriefes. Übersetzung nach der BasisBibel.
3 Ich danke meinem Gott jedes Mal, wenn ich an euch denke. 4 Ich danke ihm in jedem Gebet, das ich für euch alle spreche! Ich kann voller Freude beten, 5 weil ihr euch so sehr für die Gute Nachricht einsetzt – vom ersten Tag an bis heute. 6 Ich bin ganz sicher: Derjenige, der das gute Werk bei euch begonnen hat, wird es auch zum Abschluss bringen – bis zu dem Tag, an dem Jesus Christus wiederkommt. 7 Es ist ja nur richtig, dass ich so über euch alle denke. Denn ich habe euch ins Herz geschlossen. Egal, ob ich im Gefängnis sitze oder vor Gericht die Gute Nachricht verteidige und für sie eintrete: Ihr alle erhaltet zusammen mit mir Anteil an der Gnade, die Gott mir schenkt. 8 Gott ist mein Zeuge: Ich sehne mich nach euch allen mit der ganzen Liebe, die Christus Jesus in mir geweckt hat. 9 Und das ist es, worum ich bete: Eure Liebe soll weiterwachsen und zunehmend geprägt sein von Erkenntnis und umfassendem Verständnis. 10 Ihr sollt selbst überprüfen können, worauf es ankommt. Denn ihr sollt fehlerlos sein und keinerlei Anstoß erregen an dem Tag, an dem Christus wiederkommt. 11 Dann werdet ihr reichlich ausgestattet sein mit dem Ertrag der Gerechtigkeit. Den lässt Jesus Christus wachsen, um die Herrlichkeit und den Ruhm Gottes noch größer zu machen.

Dankbarkeit. Früher – sehr viel früher – war Dankbarkeit ein Mittel, mit dem man sich gegenseitig des sozialen Status vergewisserte: Wer dankte, zeigte sich unterlegen; wer den Dank empfing, war überlegen. Dankbarkeit sorgte auch für gerechte Verhältnisse. In Dankbarkeit wurde aufgewogen, was man dem anderen schuldete. Manchmal trifft man Menschen, die leben das immer noch so. Man könnte meinen, die Zeiten hätten sich nicht geändert. Als wäre Dankbarkeit ein Zahlungsmittel. Oder Entschädigung. Als hätte der, dem man Dank schuldet, einen materiellen Schaden. Von Paulus lerne ich Dankbarkeit, wie Christen sie verstehen und leben. Als Kennzeichnung: An ihrer Dankbarkeit werdet ihr sie erkennen. Und als Lebenseinstellung: Weil das ganze Leben Loben und Danken und damit Gottes-Dienst ist.

Ich lerne auch: Je intensiver die Zeit, desto größer der Dank. Es ist nicht wichtig, wie lang eine Zeit tatsächlich ist, ob ein ganzes halbes Jahr, ob es neun Monate sind oder zwei Jahre. Am Ende zählen nicht die Zahlen, sondern da zählt der Zauber, also wie besonders die Zeit war. Besondere Zeiten erfordern einen besonderen Rückblick und besonderen Dank. Also leihe ich mir Worte von Paulus: Ich danke meinem Gott jedes Mal, wenn ich an euch denke.

Ja, ich denke an euch. Ich denke an euch Sonntagsgemeinde, und an euch Musiker, Küsterinnen, Sekretärinnen, Jugendleiter und Kollegen, an euch Ehrenamtliche im Presbyterium und der Jugendarbeit, ich denke an euch Senioren und an euch Kinder, an euch Lehrerinnen und Grundschüler, an euch Täuflinge und Tauffamilien, Trauergemeinden, an euch Teamer in der Konfirmandenarbeit und an euch Konfirmanden. Und ich denke: Vom Denken zum Danken ist es nur ein kleiner Schritt. Nur ein einziger Buchstabe. Also danke ich euch, dass ihr mir gezeigt habt, wer hinter diesem Namen und jenem Gesicht steckt. Dass ihr mir eure Geschichte erzählt und eure Zweifel mit mir geteilt habt und dass wir gemeinsam versucht haben, in dieser Welt zu glauben, zu hoffen, zu lieben. Ihr habt mir erzählt, was euch nachts nicht schlafen lässt, was euch den letzten Nerv raubt und wann euer Herz Purzelbäume schlägt. Ich danke meinem Gott jedes Mal, wenn ich an euch denke, denn ich erkenne Gott in jedem von euch. Jedes Leben ist ein Gottes-Dienst.

Jeder Gottesdienst lebt nämlich auch das Leben wie es ist. Irgendwas zwischen Himmel und Hölle auf Erden. Irgendwo dazwischen lebt ihr euren Gottes-Dienst. Irgendwo dazwischen seid ihr unterwegs auf eurem Weg. Als Mensch und als Gemeinde. Kirchengemeinden, die sich Emmaus-Gemeinde nennen, sind meistens noch ein bisschen mehr auf dem Weg als andere. Ein bisschen mehr auf der Suche nach dem richtigen Weg, der richtigen Richtung, dem eigentlichen Ziel und der Zukunft, die Gott ihr versprochen hat. Eine Emmaus-Gemeinde lebt und glaubt nach dem Motto, dass der Weg das Ziel ist. Sie hält die Fragen aus, auf die sie noch keine Antworten bekommt, die Spannungen, die sich noch nicht ent-spannt und die Verwirrungen, die sich noch nicht ent-wickelt haben. Sie hält aus, was im Leben und im Glauben so widersprüchlich ist und sie breitet es aus vor Gott. Immer wieder. Im Gottes-Dienst, im Gebet, in der Fürbitte: Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.

Und noch einen Satz leihe ich mir von Paulus: Und das ist es, worum ich bete: Eure Liebe soll weiterwachsen und zunehmend geprägt sein von Erkenntnis und umfassendem Verständnis.
Beten. Ob im Gottesdienst oder auf dem Weg zur Arbeit, mit anderen oder still gebetet – in jedem Gebet lebt der Glaube an Gottes Allmacht, da lebt der Mut, die Rettung aller Dinge zu erwarten und in jedem Gebet atmet der Heilige Geist. Fürbitten sind besondere Gebete. Jede Fürbitte lebt von Entgrenzung. Ich trete hinaus aus meiner eigenen kleinen Welt und wende mich dem Leid und der Freude anderer zu. Jede Fürbitte lehrt deshalb auch Verantwortung auf der einen und Bescheidenheit auf der anderen Seite. Eine fürbittende Gemeinde übt sich darin, Worte zu finden für die, denen sie fehlen und sie übt sich darin, die eigene Komfortzone zu verlassen. Ich glaube, dass beides Menschen näher zu Gott bringt und dass deshalb jede Fürbitte am Ende ins Lob fließt. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit.

Dass die Fürbitten im Gottesdienst erstens relativ unmittelbar nach der Predigt und zweitens immer am Schluss kommen, hat seinen Grund. Weil am Ende ein Anfang bevorsteht: eine neue Woche. Und weil es für eine Gemeinde, die Gottes Wort mit dem Herzen gehört hat,  die einzig logische und theologische Konsequenz ist, am Ende des Gottesdienstes damit anzufangen, das Herz und den Blick zu weiten für die Welt und sie ins Gebet zu nehmen. Manchmal ist das das einzige, das man überhaupt tun kann. Immer ist es das, worauf es ankommt.

Damit nehmen wir ernst, was wir vorhin in der Lesung gehört haben. Worauf es ankommt, als Familie Gottes zu leben. Er hat dir kundgetan, Mensch, was gut ist, und was der HERR von dir fordert: Nichts anderes, als Recht zu üben und Güte zu lieben und in Einsicht mit deinem Gott zu gehen. Er hat es dir kundgetan. Das ist dir gesagt, Mensch. Nicht von deiner Nachbarin oder deinem besten Freund, nicht von deiner Pfarrerin, auch nicht von Hermann Hesse, sondern von Gott. Und das ist gut so. Denn manches kann man sich einfach nicht selber sagen.

Darauf kommt es an: Recht üben, Güte lieben, in Einsicht mit deinem Gott zu gehen. Womit wir wieder unterwegs sind. Auf dem Weg als Emmaus-Gemeinde, die in Einsicht mitgeht mit ihrem Gott. Das heißt, sie schaut auf die Welt mit den Augen Gottes. Und sie hält sich an die Art, wie Jesus Christus unterwegs ist, der hier und da auf dem Weg stehen bleibt, um denen in die Augen zu schauen, die von allen übersehen werden. Der die ausgetrampelten Pfade verlässt, um zu denen zu gehen, von denen niemand wissen will, dass es sie gibt. Und der den Weg geht mit der Gewissheit, dass Gott vollenden wird, was er angefangen hat. Für mich heißt vollenden: Gott füllt jedes Ende mit einem Anfang. Er macht es reich und er macht es gut.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsre Vernunft, der halte unsern Verstand wach und unsre Hoffnung groß und stärke unsre Liebe. Amen.

Worte sind meine Sprache

Predigt für den Vorletzten Sonntag im Kirchenjahr / Volkstrauertag (15.11.2015) in der Friedenskirche Neersen

Während ich diese Zeilen schreibe, brennt neben meinem Schreibtisch eine Kerze. Die habe ich diesmal ganz bewusst angezündet. Für mehr Licht, denn das haben diese Tage auch nötig. Jetzt, wo es draußen viel zu schnell dunkel und in den Herzen von so Vielen so schnell finster wird. Ich zünde das Licht an für mehr Wärme, denn auch das haben diese Tage nötig, wenn für manche kalte Schultern ein Wintermantel nicht reicht.

Die Flamme meiner Kerze flackert, ganz leicht von dem Luftzug der Heizung, und stärker dann, wenn ich mich unruhig vom Tisch erhebe und durchs Zimmer tigere, um meine unordentlichen Gedanken zu sortieren. Die Flamme ist so unruhig wie mein Herz. Ich beobachte sie und denke mir dabei, dass sie auch ein Symbol ist. Für den Frieden. Ein kräftiger Wind – und schon ist es wieder dunkel.

Während ich diese Zeilen schreibe, überschlagen sich an meinem Bildschirm immer noch die Nachrichten und Kommentare, und ich komme kaum hinterher, sie zu lesen und zu filtern, während in meinem Kopf die Gedanken Purzelbäume schlagen – und zwar nicht die, die den Endorphin-Spiegel in die Höhe treiben.

Ich bin bewegt. So viele sind bewegt. An diesem Wochenende, und in diesen Tagen. Weil uns da etwas nah kommt. Zu nah. Da passiert etwas in einem Land, das uns geographisch gesehen so nah ist, dass wir mal für ein langes Wochenende hinfahren. Man kann ja von Frankreich als Urlaubsland halten was man will, aber lieben wir nicht doch alle ein bisschen dieses Land, und diese Stadt, die die Stadt der Liebe ist? Wir fahren für einen Kurzurlaub nach Paris, essen hier ein Croissant und trinken dort einen Café au lait und beobachten dabei die gut angezogenen Mademoiselles, Madames und Messieurs (und uns heimlich fragen, warum wir das nicht auch können). Und wenn wir dann wieder zu Hause sind in unserem kernigen und schwarzbrotgeprägten Deutschland, dann kaufen wir uns eine Flasche Merlot und eine Käseplatte und fühlen uns wie Gott in Frankreich. Ja, so nah ist uns dieses Land.

Und deshalb kommt es uns jetzt nah. Deshalb bewegt uns, was dort passiert.

Auch, weil an diesem Abend im Stadion in Paris deutsche Fußballer den Ball über den Rasen kicken, weil sie dabei von deutschen Fußballfans angefeuert werden, und auch, weil sich bestimmt im Konzertsaal und den Brasserien ebenfalls Menschen aufgehalten haben, die Deutsche sind. Menschen, die wir nicht kennen und wahrscheinlich niemals kennenlernen werden, aber mit denen wir Sprache und Heimat teilen, die Lust am Fußball und den Genuss von Livemusik und die einen geselligen Abend mit Freunden genauso schätzen wie wir. Man muss kein Sozialpsychologe sein, um zu verstehen, dass auch diese Dinge dafür sorgen, dass wir uns dem, was in Paris an diesem Wochenende passiert ist, nah fühlen. So nah, dass man den Knall der Detonationen fast mit eigenen Ohren gehört und den für einen kurzen Moment bebenden Fußboden beinahe mit den eigenen Füßen gespürt hat. Das geht einem durch Mark und Bein. Das tut körperlich weh. Sagen viele.

Viel mehr noch als das, was in den letzten Tagen in anderen Ländern geschehen ist, und was viel furchtbarer und brutaler ist als die Ereignisse in Paris. In Ägypten, Israel, Kolumbien, im Libanon, Nigeria, Somalia, in der Ukraine…für jeden Buchstaben des Alphabets findet sich mindestens ein Land auf dieser Welt, in dem es Bürgerkrieg, Gewalt, Terror, Blutbäder und Konflikte gibt. Wer Frieden buchstabieren wollte, müsste anfangen bei A wie Afghanistan und hätte viel zu tun.

Heute ist Volkstrauertag, und an diesem Wochenende bekommt das nochmal einen ganz anderen, neuen Klang.

Volkstrauertag. Das hört sich in diesen Tagen anders an, wenn gefühlt jeder zweite Nutzer sein facebook-Profil-Bild mit blau-weiß-roten Streifen versieht. Für mehr Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Volkstrauertag. An diesem Wochenende gehen andere Bilder der Trauer um die Welt: Kerzen im Fenster. Und ein schwarzes Peace-Zeichen mit einem Eiffelturm.

Volkstrauertag. Es ist nur ein Tag. Oder doch eine gefühlte Ewigkeit?

Inzwischen heißt dieser Tag nicht mehr Heldengedenktag. Und das ist gut. Weil Krieg und Gewalt, Terror und Konflikt keine Helden hinterlassen, sondern an Leib und Seele verwundete und verletzte Menschen. Menschen, deren Narben auch bei den Kindern und Enkelkindern bleiben.

Dieser Tag heute ist auch der vorletzte Sonntag im Kirchenjahr. So nah kommen sich Staat und Kirche, Welt und Gemeinde. Heute, an diesem Tag, liegen sie so dicht beieinander, dass man den einen kaum von dem anderen unterscheiden kann.

Wenn das Kirchenjahr zu Ende geht, blicken wir zurück auf das letzte Jahr, auf das, was uns froh und dankbar macht, und auf alles, was uns beschwert. Das klagen wir Gott. Wenn das Kirchenjahr zu Ende geht, blicken wir auch nach vorn und fragen uns: Was wird morgen sein? Wer werde ich morgen sein? Werden wir getröstet? Gibt es Hoffnung? Welche Zukunft wartet auf mich?

Wenn wir Volkstrauertag begehen, blicken wir zurück auf unsere Geschichte. Gedenken der Opfer von Krieg und Gewalt. Lassen uns mahnen von der Vergangenheit. Wir blicken ins Jetzt und sehen: Unsere Gegenwart ist die Vergangenheit der Zukunft. Wir blicken nach vorn und fragen uns: Was können wir jetzt tun für eine gute Zukunft, die unseren Kindern und Enkelkindern eine gute Vergangenheit wird?

Heute gehen die Gedanken zurück. Zu den Zeiten des Unfriedens. Die Gedanken gehen ein paar Tage zurück. Ein paar Wochen, Monate, Jahre. Sie gehen viele Jahre zurück. Siebzig Jahre und mehr. Die Gedanken gehen mehr als eine Generation zurück. Mehr Jahre als ein Menschenleben im Durchschnitt dauert. Wir blicken zurück auf das, was war. So viele Schicksale, Lebensgeschichten, Namen. Manche sind uns ganz nah, andere weit entfernt. Wir blicken auf das, wie wir geworden sind, wer wir heute sind. Als Mensch, Volk, Gesellschaft, Gemeinde, Christen. Was uns geprägt hat, was uns erschreckt, schockiert, beschämt. Und das, was uns trotz allem im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe wach hält.

Heute gehen die Gedanken zurück, und sie gehen nach vorn. Die Fragen werden laut, unser Herz wird unruhig. Und uns fehlen die Worte. Wir finden keine Antworten.

Also, was soll man sagen?
Die einen sagen: Wir sind Paris.
Die anderen: Wir sind auch Beirut und Gaza.
Die einen: Die Grenzen müssen dicht gemacht werden.
Andere: Es sind diese Leute, vor denen die Menschen in Syrien fliehen.
Manche: Der Islam lehrt Gewalt.
Andere: Allahu akbar ist ein Gebet, kein Aufruf zur Gewalt.
Und wieder andere sagen: Terroristen sind Terroristen. Und Terror kennt keine Religion.

Auch mir fehlen die Worte. Und dann lese ich in der Bibel diese Worte: Tu deinen Mund auf für die Stummen (Spr 31,8).
Aber was soll man sagen? Welches Wort ist das richtige?

Jesus Christus ist das menschgewordene Wort Gottes, das in die Welt gekommen ist, um ihr Sprache zu geben. Und wenn er wirklich ein Wort ist, das man auch sprechen kann, dann muss es ein UND sein. Weil ein UND verbindet, was zusammengehört. Und auch alles, was nicht zusammengehört. Das Und verbindet Männer und Frauen, Kinder und Senioren, Flüchtlinge und Helfer, Erzieher und Bundeskanzlerin, Polizistin und Hausfrau, Soldaten und Friedensaktivisten. Das und streckt nach rechts und links seine Arme aus und verbindet. Ja, Jesus muss ein UND (+) sein. Im Kreuz verbinden sich oben und unten, Himmel und Erde. Im Kreuz verbinden sich rechts und links die Menschen untereinander. Jesus muss ein UND sein.

So lese ich die Bibel dann ganz neu:

Am Anfang war das und und das UND war bei Gott und Gott war das UND.
Und das UND ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit.
Es versammelten sich viele in dem Haus, so dass kein Platz war drinnen und draußen, und er sagte ihnen das UND.
Und sie sprachen: Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast UNDe des ewigen Lebens.
Und er sprach: Wenn ihr bleiben werdet an meinem UND, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger. Wer mein UND hält, der wird den Tod nicht sehen in Ewigkeit. Und er redete das UND frei und offen.

Ich lese weiter: Denn Gott spricht: So soll auch das UND sein, das von meinem Mund ausgeht, es soll nicht wieder leer zu mir zurückkehren, sondern soll tun, was mir gefällt und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.

Ja, so macht es Sinn: Gott hat in Christus unter uns aufgerichtet das UND von der Versöhnung.
Und: Das Gras verdorrt und die Blume auf dem Feld verwelkt, aber des Herrn UND bleibt in Ewigkeit.
Deshalb stelle ich in diesen dunklen Tagen eine Kerze ins Fenster und werde nicht müde zu singen: Gottes UND ist wie Licht in der Nacht, es hat Hoffnung und Zukunft gebracht. Und ich werde nicht müde zu beten: Sprich nur ein UND, und meine Seele wird wieder gesund.

In den Tagesthemen hat Sonia Mikich heute Nacht gesagt: „Ich will, dass wir das letzte Wort haben, nicht den letzten Schuss feuern.“ Und ich denke mir: Ja, was wäre das für eine Welt, in der Menschen verlernen oder vergessen oder verleugnen, dass Worte ihre Sprache sind?!

Wo doch gesagt ist: Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.

Also sage ich UND in diesen Tagen. Und ich sage noch zwei andere Worte.
Das eine ist: NEIN.
Nein zu Angst und Hass.
Nein zu respektlosem Umgang mit anderen Menschen.
Nein zu kalten Schultern und versteinerten Herzen.
Nein zu Hetze und Terror.
Nein zu Misstrauen.
Nein zu lebensverachtendem Verhalten.
(Die Liste ist noch länger, aber ich finde das andere Wort noch wichtiger.)

Das andere Wort ist: JA.
Ja zum Erinnern.
Ja zu Geschichte.
Ja zum Frieden.
Ja zu mehr Solidarität und Respekt und Toleranz.
Ja zum Händereichen.
Ja zur Liebe, zu mehr Lachen.
Ja zum Leben.
Ja zu Vertrauen.
Ja zu mehr Kerzen in den Fenstern.
Ja zu mehr Fragen, Liedern, Gebeten.
Ja zu „erzähl mir deine Geschichte“.

Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache derer, die verlassen sind.
Denn es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht schon wüsstest.
Dein Wort ist meine Sprache.

Amen.

Wie Kirche auch sein kann

Fresh X live erlebt. Wie Kirche auch sein kann.
Gedanken zum Buch von Pfr. Sebastian Baer-Henney

Es ist schon eine Weile her, dass ich in Gedanken meine Gedanken zu diesem Buch aufgeschrieben habe.
Es ist auch schon länger als eine Weile her, dass ich es gelesen habe.
Und noch viel länger ist es her, dass ich in diesem Blog etwas geschrieben habe.

Also: Es ist an der Zeit.

Inzwischen haben schon manche Andere das Buch gelesen.
Und inzwischen haben auch schon andere darüber geschrieben.
Mich beschäftigt es noch immer. Und immer wieder.
Deshalb hat es eine kleine persönliche Rezension verdient.

Also: Ich habe das Buch sehr gerne gelesen! Denn ich lese vor allem solche Bücher am liebsten, deren Geschichten vor meinem inneren Auge Bilder aufsteigen lassen, die sich dann in die Netzhaut fast einbrennen und sich dort für immer verewigen. Man könnte es auch Kopfkino nennen, aber ohne dass ich mir noch Szenen dazudenke. Die rund 150 Seiten des Mittel- bzw. Hauptteils, auf denen Sebastian Baer-Henney von den 30 Gemeinden erzählt, lesen sich wie ein Dokumentarfilm, der auf schlichte und deshalb eindrückliche Art und Weise ein Gesamtbild kirchlichen Lebens in Großbritannien zeichnet, dabei wohl dosiert Atmosphären einfängt und seinen Zuschauern resp. Lesern ausreichend Gelegenheiten bietet, sich das eine Mal direkt mit der Handkamera des „Journalisten“ ins Getümmel zu stürzen und ein ander Mal etwas abseits stehen zu bleiben und alles aus einer gesunden Distanz zu betrachten, die weit genug weg ist, um objektiv zu sein, und gleichzeitig nah genug dran, um auch noch einen subjektiven Eindruck zu bekommen.

Das Buch ist nämlich nicht nur ein Sachbuch über fresh expressions, es ist (vor allem, finde ich) auch ein Reisebericht über eine Reise durch Englands Kirchenlandschaft, und wenn einer so eine Reise tut, dann hat er hinterher nicht nur viel über die Kirchen, sondern auch manches über das Land zu erzählen. Und genau das hat mir so gut gefallen. Diese Mischung aus Sachbuch und Reisebericht. Denn immer wieder bin ich mit Sebastian Baer-Henney und seiner „Kamera“ unterwegs, fahre mit ihm zu Englands entlegendsten Gemeinden, die selbst google nicht kennt, trinke guten englischen Tee und esse dazu englische Kekse, staune über Entwicklungen, Biographien, über Mut und Realismus, über Londons Lebenstempo, das Fremde sich fühlen lässt wie ein Pausenzeichen und vor allem staune ich über Gottes Wirken in der Welt und darüber, wie eng Glaube und Vertrauen hier tatsächlich beieinander liegen: Immer wieder wird gebetet. Und immer wieder wird erzählt, wie viel gebetet wurde, als alles anfing.

Wie nebenbei lerne ich ganz viel über die fresh expressions of church. Was ich vorher schon aus der Theorie und sozusagen vom Hörensagen kannte, hat jetzt ein Gesicht bekommen und einen Namen. Und eine Geschichte dahinter. Das finde ich großartig. (Auch wer bisher noch nicht von fresh x gehört hat, kann das Buch genau so gut lesen und erfährt eine ganze Menge. Es ist ja, wie gesagt, auch ein Sachbuch. Eben eins, in dem der Autor immer wieder klarstellt, zusammenfasst, anmerkt und reflektiert und das in einem sehr ausgewogenen Verhältnis.)

Wer das Buch liest, wird die Sachinformationen ganz schnell mitkriegen. Deshalb werde ich dazu jetzt gar nicht mehr sagen. Lest es einfach selbst. Lasst euch mitnehmen in diese Welt, die eure sein könnte. Wer weiß, vielleicht schreibt ja mal jemand ein ähnliches Buch über Deutschland? Darüber, wie Kirche auch sein kann. Trifft die beymeister in Köln-Mülheim (zwischen vielen Zeilen lese ich genau das übrigens immer wieder heraus, aber natürlich lässt sich sowas im Nachhinein immer sehr einfach reinlesen) und viele andere Projekte und Menschen, die zeigen, was es braucht, damit Kirche auch anders sein kann: Gottvertrauen und Mut, eine „Alles-ist-möglich“-Haltung und „nicht genug“-Philosophie. Auf dem Weg dorthin warten Irr- und Umwege, Sackgassen und Kreuzungen, die Erfahrung, dass es gut tut, eine Weile nichts zu unternehmen und die Einsicht, dass es die „Kirche für alle“ nicht gibt und dass wir gerade deshalb ganz anders aufmerksam sein müssen.

Dieses Buch tut gut. Denn hinterher sieht man die eigene kleine Welt so, als hätte man sich die Brille geputzt. Oder sich endlich eine neue gekauft, für den scharfen Blick in die weite Landschaft Kirche.

Neunzigmalklug.

Mein Leben in Fragen. (Vielleicht auch deins.)

(Kleine Anmerkung vorweg: Dieser Text wurde geschrieben für den Predigtslam auf dem Kirchentag am 06.06.2015 in Stuttgart mit dem Motto aus Psalm 90: „dass wir klug werden“. Er ist also zum Hören, weniger zum Lesen. Denke ich.)

1. Wo ist der Himmel aufgehängt?
2. Warum macht grüne Seife weißen Schaum?
3. Kommt da noch ein Baby raus?
4. Oma, schmeckt die Frau da nach Schokolade?
5. Können Fische husten?
6. Warum sind Erwachsene immer so streng?
7. Wenn ich meine Spaghetti nicht aufesse, darf ich sie dann nach Afrika schicken?
8. Wo ist Walter?
9. Wo ist Opa jetzt?
10. Warum schmecken Tränen nach Salz, nicht nach Zucker?
11. Warum muss ich in die Schule?
12. Nerven deine Geschwister auch so?
13. Wann werden meine Eltern wieder normal?
14. Was benutzt du gegen Pickel?
15. Was hilft gegen Busen?
16. Bekommen das alle?
17. Warum haben alle einen Freund außer ich?
18. Wird man vom Küssen schwanger?
19. Wann guckt er endlich rüber?
20. Bin ich schön?
21. Kann ich Mathe von dir abschreiben?
22. Willst du mit mir gehen?
23. Warum sind die süßesten Jungs immer die größten Herzensbrecher?
24. Warum tut Liebeskummer weh?
25. Hast du auch mal welchen gehabt, Mama?
26. Wer hält mich, wenn ich falle?
27. Bist du da, Gott?
28. Wieso konnten sie sich nicht zu zweit auf die verdammte Tür legen??
29. Wer ist eigentlich dieser Lan und warum macht er so viele Parties?
30. Warum gibt es Noten in Sport?
31. Warum kan nicht alles einfach so bleiben wie es ist?
32. Was will ich werden und wie werde ich, wer ich bin?
33. Habe ich einen Lebenstraum?
34. Bleiben wir in Kontakt?
35. …und am Wochenende sehen wir uns dann immer?
36. Papa, kannst du mir die Waschmaschine anschließen?
37. Mama, kannst du mir erklären, wie sie funktioniert?
38. Vermisst du mich auch?
39. Warum wohnen die besten Freunde immer so weit weg?
40. Findest du die Vorlesung auch so langweilig?
41. Sollen wir nicht lieber einen Kaffee trinken gehen?
42. Was ist dir wichtig im Leben?
43. Glaubst du an Gott?
44. Wie kommst du aus Krisen?
45. Kochen wir heute Abend was zusammen?
46. Boah, kann ich das Rezept haben?
47. Warum ist am Ende des Geldes noch so viel Monat übrig?
48. Warum liegt hier eigentlich Stroh?
49. Und wer bist du überhaupt?
50. Gehen wir zu mir oder zu dir?
51. Warum haben wir uns nicht schon früher kennengelernt?
52. Sind das etwa Schmetterlinge?
53. Ist die Welt zu kaufen?
54. Oder wie lang müssen meine Arme sein, um sie zu umarmen?
55. Warum antwortet er nicht auf meine sms?
56. Soll ich gleich zurückschreiben?
57. Woran denkst du?
58. Wie geht es weiter?
59. Wollen wir zusammen leben?
60. Wenn Zuhause da ist, wo das Herz ist, wo ist dann Heimat?
61. Welche Wohnung ist groß genug für zwei Lebensentwürfe?
62. Warum ist der Urlaub immer viel zu kurz?
63. Warum bin ich morgens immer müde und werde abends wach?
64. Warum bringst du den Müll nicht raus?
65. Bin ich dran mit Spülen?
66. Gehen wir heute Abend ins Kino?
67. Wo kommst du jetzt her?
68. Wie kannst du nur?!
69. Sind wir glücklich?
70. Haben wir schon alles erreicht?
71. Was wollen wir noch erleben?
72. Müsste man sich nicht viel öfter was trauen?
73. Willst du mich heiraten?
74. Was bringt mir eigentlich Kirche?
75. Sind Computer die besseren Menschen?
76. Und die digitalen Freunde die verlässlichsten?
77. Wenn Geld die Welt regiert, will ich mich knechten lassen?
78. Wie viel fair hilft viel?
79. Wie viel bio verträgt dein Geldbeutel?
80. Wie lange dauert die Ewigkeit?
81. Ist da jemand?
82. Können wir unseren Kindern die Welt erklären?
83. Was war vorher?
84. Findet Gott alle Menschen gleich gut?
85. Weiß er alles?
86. Wofür lohnt es sich zu leben?
87. Werden irgendwann alle Fragen beantwortet?
88. Wie bleibt man glücklich?
89. Sehen wir uns wieder?
90. Und wo ist eigentlich der Himmel aufgehängt?

P.S.: Mehr vom gestrigen Predigtslam gibt es z.B. bei Frau Auge (Birgit Mattausch) und bei Zwischengerufen (Friederike Erichsen-Wendt), und in der facebook-Gruppe „Zentrum für evangelische Predigtkultur“ (z.B. Johanna Klee). Einfach mal reinlesen!

Ohrenschmaus

Predigt für den Gottesdienst am 03. Mai 2015 (Kantate) in der Friedenskirche Neersen: 1 Sam 16,14-23

Was auf die Ohren (Teil 1).
Liebe Gemeinde,
wenn ich einkaufen gehe, verlasse ich den Supermarkt in der Regel nicht nur mit vollen Einkaufstüten, sondern nehme noch etwas mit, gratis sozusagen. Es steckt nicht etwa in meinen Tüten, sondern in meinen Ohren. Meistens merke ich es erst, wenn ich zu Hause bin und nichtsahnend die Einkäufe wegräume. Dann taucht es ganz unvermittelt auf und bleibt hartnäckig für ein paar Stunden, der Beschallungsanlage im Supermarkt sei Dank: Mein Ohrwurm.

Letzte Woche wurde bekannt, dass das Kauen von Kaugummi helfen soll. Allerdings erst hinterher, also nachdem man ein Lied mit Ohrwurm-Charakter gehört hat. Und bisher wurde es nur an Hits getestet, also diesen Liedern, die vierundzwanzig Mal am Tag im Radio laufen und bei denen man keine Chance hat, wegzuhören. Weil auch keiner freiwillig weghören will. Denn es sind ja Lieder, die den meisten Leuten gefallen. Lieder, die die meisten Leute gerne hören. Solche Ohrwürmer sind doch zum Behalten.

Und dann sind da die anderen. Die, die dir unterbewusst eingesetzt werden wie ein Floh. Ein Ohrfloh. Während du deinen Einkaufswagen füllst oder den Tank deines Autos, wenn du die Spülmaschine ausräumst, während im Hintergrund die Fernsehwerbung läuft und zu all diesen anderen Gelegenheiten. Diese Ohrwürmer setzen sich richtig fest. Da hilft kein Kaugummi und dagegen ist auch noch kein anderes Kraut gewachsen. Da würde nur helfen, das Radio aus- oder gar nicht erst einzuschalten und den Fernseher in der Werbepause stumm oder mit Ohropax einkaufen zu gehen oder tanken zu fahren. Da würde nur helfen, sich zurückzuziehen aus einer Welt der Klänge, Stimmen, Melodien und Töne. Die beste Lösung wäre das bestimmt nicht.

Angst essen Seele auf.
Manche Ohrwürmer setzen sich richtig fest. Manchmal auch welche, die gar keinen Rhythmus haben, keine Noten oder Töne. Einfach nur Worte und Bilder. Gedanken, die du nicht so einfach wegschieben kannst wie den Sessel im Wohnzimmer. Sorgen, die sich nicht so einfach ablegen lassen wie den Mantel an der Garderobe. Mit denen du dich abends ins Bett legst und die immer noch da sind, wenn der neue Tag beginnt. Die dich nachts nicht schlafen und tagsüber nicht konzentrieren lassen. Mancher Ohrwurm frisst sich langsam durch den Körper und dabei fast die Seele auf.

Die Bibel erzählt von einem, dem ging es so. Zwischen den Zeilen kann man das lesen. Sie erzählt auch, was ihm geholfen hat. Schwarz auf weiß steht das da. Für alle zu lesen. Für alle zu hören. Im 1. Samuelbuch im 16. Kapitel.

14 Der Geist des HERRN aber wich von Saul und ein böser Geist vom HERRN ängstigte ihn. 15 Da sprachen die Großen Sauls zu ihm: Siehe, ein böser Geist von Gott ängstigt dich. 16 Unser Herr befehle nun seinen Knechten, die vor ihm stehen, dass sie einen Mann suchen, der auf der Harfe gut spielen kann, damit er mit seiner Hand darauf spiele, wenn der böse Geist Gottes über dich kommt, und es besser mit dir werde. 17 Da sprach Saul zu seinen Leuten: Seht euch um nach einem Mann, der des Saitenspiels kundig ist, und bringt ihn zu mir. 18 Da antwortete einer der jungen Männer und sprach: Ich habe gesehen einen Sohn Isais, des Bethlehemiters, der ist des Saitenspiels kundig, ein tapferer Mann und tüchtig zum Kampf, verständig in seinen Reden und schön gestaltet, und der HERR ist mit ihm. 19 Da sandte Saul Boten zu Isai und ließ ihm sagen: Sende zu mir deinen Sohn David, der bei den Schafen ist. 20 Da nahm Isai einen Esel und Brot und einen Schlauch Wein und ein Ziegenböcklein und sandte es Saul durch seinen Sohn David. 21 So kam David zu Saul und diente vor ihm. Und Saul gewann ihn sehr lieb und er wurde sein Waffenträger. 22 Und Saul sandte zu Isai und ließ ihm sagen: Lass David mir dienen, denn er hat Gnade gefunden vor meinen Augen. 23 Sooft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter und es ward besser mit ihm und der böse Geist wich von ihm.

Musik ist die beste Medizin.
Ich stelle ihn mir vor, diesen König. Ein kräftiger Mann, jetzt zusammengesunken auf seinem Thron. Matt. Erschöpft vom Kampf gegen das, was ihm den Schlaf raubt und beinahe seine Seele auffrisst. Den schweren Kopf in die Hände gestützt. So stelle ich ihn mir vor, diesen Mann, der einst alles wusste und jetzt nicht mehr weiter weiß. Für den Lachen, die angeblich beste Medizin, zu einer bitteren Pille geworden ist und dem sich die Mundwinkel bei dem Versuch, sie zu schlucken, angewidert verziehen. Er schafft es noch nicht einmal, gute Miene zum bösen Leben zu machen. So stelle ich ihn mir vor, diesen Mann, dessen Ohren taub geworden sind für alle gutgemeinten Ratschläge und der über seine Angst so empfindlich geworden ist, dass jedes Wort ihn reizt und jede Berührung schmerzt. Und dann kommt einer, der ihn streichelt mit Tönen. Zärtlich streichen Hände über die Harfe, ihr Klang legt sich beruhigend auf seine Haut. Balsam auf seiner Seele.

Was auf die Ohren (Teil 2).
Es gibt sie, die Musik, die Wunden verbindet. Schmerzen lindert. Heilt. Eine Musik, die dich ablenkt von dem, was dich gefangen hält. Die dich lenkt. An einen Ort, an dem leicht wird, was dich belastet. Und was dich beengt, wird frei. Ein Ort zum Aufatmen.
Wenn du diese eine Platte auflegst, die Nadel über das Vinyl kratzt und dann die vertrauten Klänge das Wohnzimmer fluten und verwandeln. In diesen Ort.
Wenn du deine Kopfhörer aufsetzt und für einen Moment alles still ist. Bis dir die ersten Töne von deinem Lieblingslied direkt ins Ohr gesungen werden. So nah, dass du sonst nichts mehr hörst. Hier ist alles andere vergessen.
Der Streit.
Die schlaflosen Nächte.
Das Gedankenkarussell.
Der Liebeskummer.
Die Trauer.
Hier ist der Ort ohne Schmerz und ohne Leid. Hier klingen Lieder von Frieden und Freude, die deiner Sehnsucht Flügel verleihen und deinen Armen so viel Länge, um die Welt zu umarmen. Lieder, die Tränen trocknen und Herzen heilen. Für eine Zeit, die länger ist als drei Minuten vierzehn. Und länger als dein Lieblingslied in Endlosschleife. Lieder für die Ewigkeit. Neue Lieder.

Ein neues Lied.
Was ist das für eine Musik?
Wie wäre das, wenn alle sie hören?
Wie würde es sein?
Was wär das für ein neues Lied?

wenn einst stumme Lippen Lieder summen
und aus der Tiefe Töne brummen
wenn Klänge klingen durch trübe Lüfte
und längst vergessene alte Düfte
die Nase und dein Ohr verwöhnen
mit diesen und nur solchen Tönen
die Atmen wieder möglich machen
(mit Luft in den Lungen lässt es sich ja viel leichter lachen
und singen und leben)
und die Welt räkelt sich wieder der Sonne entgegen
klatscht in die Hände und jubelt dazu
die einen laut
die anderen leise
alle singen sie auf eigene Weise
im eigenen Tempo und Rhythmus
denn nichts muss, alles ist erlaubt
alles wovon du glaubst
dass es dein Lied ist
weil jeder Mensch singen kann und soll
ob Dur oder Moll, ob schief oder klar
wenn es dein Lied ist
ist es wahr was man erzählt
dass einer alle Lieder in seinen Händen hält
und in die Herzen schreibt
(und was einmal geschrieben ist, bleibt
dort eingraviert und komponiert, detailliert arrangiert)
diese Lieder gehören aufgeführt
auf der Bühne des Lebens
wo sie davon singen, dass nichts vergebens ist und alles vergeben
was wären das für neue Lieder
die Welt ein Gesang und der Gesang nur ein Wort
ein neues Lied das den ansieht, der dich ansah
Halleluja

Amen.

Guck‘ mal, wer da spricht!

In meiner facebook-timeline tauchte in den letzten Tagen bestimmt siebenmal oder öfter dieser eine Artikel auf, immer wieder von anderen Personen geteilt: „Kirche verreckt an ihrer Sprache“. Ich habe ihn dann auch mal gelesen. Auch die Kommentare und Diskussionen, die drumherum so entstanden. Und habe das Gefühl, dass das Thema einen Nerv trifft: Derjenigen, die sowieso in die gleiche Kerbe schlagen („Habe ich doch immer schon gewusst! Und gesagt auch!“). Und derjenigen, die sich nicht angesprochen fühlen („Da kennt der mich aber nicht!“).

Keine Frage, auch mich hat das in letzter Zeit beschäftigt. Weil ich erst bis vor kurzem eine Ausbildung genossen habe, in der sehr viel Wert auf gute Predigt- und Gebetssprache gelegt wurde. Weil ich der Meinung bin, dass Authentizität beim Auftreten anfängt und spätestens dann aufhört, wenn mein Gegenüber den Mund aufmacht. (Der Volksmund mag die Augen ja für das Fenster der Seele halten. Dann ist die Sprache eine Tür. Das Tor zur Welt. Zum Du. Zum Wir.) Weil Rhetorik auch eine theologische Disziplin ist, sonst würde es nicht TheoLOGIE heißen. Weil es ohne Sprache keine Verkündigung gibt, kein Weitersagen einer Froh-Botschaft, kein Evangelium.

Aber ich frage mich allen Ernstes: Warum wird ein Artikel über einen subjektiven Negativ-Eindruck von Theologen- und Predigtsprech ÖFTER GETEILT als ein wirklich sprachlich und inhaltlich gelungenes Beispiel quasi „von nebenan“, nämlich die beeindruckende und anrührende Predigt von der westfälischen Präses Annette Kurschus anlässlich des Gottesdienstes zum Gedenken an die Opfer des Flugabsturzes?! (Wer sie bis jetzt nicht gelesen hat, tue es umgehend. Es lohnt sich!)

Und was ist das für ein Bild von Kirche, das offensichtlich dann entsteht, wenn Menschen bedauerlicherweise zu oft schlechter Sprache ausgesetzt sind? Zu viele langweilige Gottesdienste besucht haben? Es noch nie erlebten, dass SIE gemeint sind? Ich finde, da wird nochmal deutlich, dass Sprache nicht nur Tore öffnet, sondern auch Türen zuschlägt. Direkt vor der Nase. Nur wer versteht, gehört dazu. Nur wer die gleiche Sprache spricht, darf mitreden…

Gerade komme ich von einer Zusammenkunft von Pfarrer/innen, die sich einen Nachmittag lang Gedanken über die Zukunft ihrer Region gemacht haben, zumindest für die nächsten zehn Jahre. Wenn ich mir versuche auszumalen, in welche Richtung sich Pfarrbilder in dieser Zeit entwickeln werden, welchen Herausforderungen das Pfarramt entgegengeht oder -sieht, dann wird mir noch einmal mehr bewusst, wie sehr Sprache pfarrdienstliches HANDWERKSZEUG ist. Wenn Gemeinden zusammengelegt, Kirchen verkauft und Pfarrstellen abgebaut werden – die Sprache bleibt. Gottes Wort bleibt. Inmitten von sprachlichen (und nicht nur das!) Ungetümen wie Haushaltskonsolidierung und Verwaltungsstrukturreformen.

Kirche lebt durch das Wort. Lassen wir es leben!

Meine Pfarrbildgalerie

Lieber noch als ins Museum gehe ich in den Zoo oder ins Kino. Und wahrscheinlich bin ich auch kein typischer Museumsbesucher. Denn die meisten Bilder erzählen für mich keine Geschichte(n), sondern etwas über mein Leben. Natürlich sehe ich mir auch gerne die van Goghs und Picassos dieser Welt an, aber die wirklich spannenden Bilder sind meiner Meinung nach eben jene, nach deren Betrachtung ich mein Stück Wirklichkeit mit anderen Augen sehe.

Lieber noch als in den Zoo oder ins Kino gehe ich in Kirchen. Gemeinden. Auch da gibt es herrlich viele Bilder zu sehen, Pfarrbilder nennt man sie dort. Der Eintritt ist immer frei und die Ausstellung eine dauerhafte. Lebenslänglich sozusagen, und sogar darüber hinaus.

Ich nehme euch mal mit auf einen virtuellen Rundgang und zeige euch meine beiden Lieblinge. Das sind nicht die, die mir am besten gefallen, sondern vielmehr die Pfarrbilder, die ich bisher am häufigsten „in echt“ gesehen habe und die mich geprägt haben.

Das erste Bild ist das Pfarrbild meiner Kindheit, also meiner Studienzeit, in der ich meine ersten Schritte Richtung pastorale Vorbilder gemacht habe. Die Farben erinnern mich an eine Zeit, in der Pfarrer noch Hirten und Herden überschaubar waren. Sieht so Nostalgie aus? Ich entdecke auch viel Gegenwärtiges in dem Bild: Kolleg_innen, die einfach für alles zuständig sind. Manche von ihnen gezwungenermaßen, andere freiwillig. Ich sehe da auch solche, die in der Kirche hauptsächlich die Erweiterung ihres Pfarrhauses bzw. Wohnzimmers bzw. Hobbykellers sehen. Solche, die nach ihrer Pensionierung die ohnehin schon großen Fußstapfen nur noch vergrößern.

Manches an diesem Bild missfällt mir so sehr, dass ich am liebsten gleich weiter gehen möchte. Und dann bleibe ich doch noch eine Weile stehen. Bis ich Schönheit darin entdecke. Ich sehe Verbindlichkeit und Kontinuität in persönlichen Beziehungen und Biographien. Und viele zufriedene Menschen. Zum Beispiel die Taufeltern, die sich gewünscht hatten, dass ich auch das zweite Kind taufe.

…und weiter geht es, den Gang entlang, geradewegs zu dem Bild, das hinten links hängt. Die anderen Bilder beachte ich gerade gar nicht. Jetzt bin ich da. Es ist ein buntes Bild. Wieder warme Farben, diesmal allerdings in einer weitaus breiteren Palette. Kaum eine Farbe des Regenbogens, die hier nicht zu sehen ist. Kaum ein Mensch, der sich nicht in diesem Bild wiederfände. Ich sehe Menschen, die zusammen sitzen, lachen, beten, essen. Es sind so viele, dass man ihre Gesichter gar nicht genau erkennen kann. Und trotzdem entsteht ein Gefühl von Zugehörigkeit. Ganz vorne ein freundliches Gesicht und eine freundliche Geste. Eine freundliche Pfarrerin. Freundlich ist auch der Titel: Einladend. Hier muss ich mich immer wundern. Denn das hat was von performativem Gemeindeaufbau – falls es den überhaupt gibt: Was gesagt ist, wird Wirklichkeit. Jetzt weiß ich auch, warum sich bei mir bei diesem Bild manchmal Überforderung ins Wohlsein mischt. Ich bin mir noch nicht so sicher, ob es mir so wirklich gefällt. Und ob ich als Pfarrerin wirklich Nachbarin sein möchte…

Im Museumsshop blättere ich nach jedem Besuch im Ausstellungskatalog, weil ich es einfach nicht schaffe, so viel Konzentration für so viele Bilder aufzubringen. Deshalb lese ich mir hier immer wieder die Titel durch: Führungskraft. Netzwerker. Freundin. Manager. Botschafterin. Evangelist. Und wie sie alle heißen. Viele haben gar keinen Titel, lassen sich nicht festlegen. Was es mir nicht gerade leichter macht. Nicht unter allen kann ich mir etwas vorstellen und nur wenige finde ich für mich passend. Manchmal habe ich das Gefühl, den Wald vor lauter Bäumen und mich selbst vor lauter Bildern und Erwartungen, Ansprüchen und Wünschen nicht zu sehen.

Deshalb sollte ich langsam mal raus hier! Ich lege den Katalog beiseite, stoße die schwere Glastür auf und stehe auf einmal wieder im echten Leben. Kalte Winterluft begrüßt mich wie eine alte Freundin, die mich immer wieder zurück auf den Boden der Tatsachen holt. Ich merke, dass ich auf die Frage, wie Pfarrdienst geht und welche Art von Pfarrerin ich sein will, noch keine Antwort habe. Ich merke auch, dass ich froh bin, den Pinsel für „mein Pfarrbild“ selbst in die Hand nehmen zu müssen. Das gehört vielleicht einfach zu den Herausforderungen meiner Generation. Ich bin jedenfalls gespannt, was da entstehen wird!

Pfarrdienst, wie geht das?

So manche Berufsbezeichnung hat ihre sprachlichen Tücken:
„Ich bin Vikarin.“ – „Welche Karin?“

Ich gebe zu: Das ein oder andere Mal habe ich mir gewünscht, ich wäre einfach Architektin oder Lehrerin geworden. Das hätten auf Anhieb alle verstanden und sich sogar noch etwas darunter vorstellen können. Als Pfarrerin sollte sich das ändern. Dachte ich. Und dann waren die Erstklässler der felsenfesten Überzeugung, dass man für diesen Beruf auf jeden Fall einen Führerschein braucht und sehr viel in großen Autos oder Bussen unterwegs ist – was zum Teil ja sogar stimmt, aber es lag doch wohl eher daran, dass man hierzulande das P im Pf eher verschludert… Okay, das zählt nicht.

Inzwischen bin ich also Pfarrerin. Und ja, es hat sich etwas verändert. Nicht nur, dass sich unter dem Pfarrberuf die meisten Menschen etwas vorstellen können und Fragen wie „…und was macht man da so?“ meistens ausbleiben.

Stattdessen stehe ich vor anderen Herausforderungen. Zum Beispiel dieser: Pfarrerin zu sein.
Denn so schön es doch ist, meinen Beruf nicht erklären zu müssen, so zahlreich sind doch die Fragen und Erwartungen an ihn. Ich suche und sammle regelmäßig Antworten auf die Frage, wie das eigentlich geht, Pfarrerin zu sein. Was es heißt, was es bedeutet, was es mit der Person macht (also mir!), die dieses Amt bekleidet, d.h. im wahrsten Sinne angezogen hat.
Und das, obwohl sich rein äußerlich nichts verändert hat: Talar und Beffchen sind noch die gleichen, und ich darf all das, was ich auch vorher schon durfte. Nur jetzt mit eigenem Auftrag. Manche Kolleg_innen versuchen auf eigene Art und Weise, das Unsichtbare sichtbar zu machen und tragen seit dem Pfarrdienstbeginn z.B. eine neue Brille oder Frisur, was für mich aus unterschiedlichen Gründen aber nicht in Frage kam.

Ich lasse also das Unsichtbare unsichtbar und merke trotzdem, dass sich etwas verändert. Vielleicht wird ja von selbst etwas sichtbar. Manchmal meine ich, es im Spiegel zu erkennen… Diese Veränderungen kann man nicht anziehen. Man kann sich nicht damit schmücken oder schminken. Sie kommen im Gespräch, in Begegnungen mit Menschen, die immer wieder fragen: „Warum sind Sie Pfarrerin geworden? Was gefällt Ihnen besonders an diesem Beruf?“ Ich treffe Menschen, und ich treffe auf Meinungen, Erwartungen, Vorurteile, Neugier, Fragen und ein ganzes Museum voller Pfarrbilder. Da kann ich mich umgucken, dem Audioguide zuhören (der mich an ausgewählten Bildern vorbeischickt) und mich mit den entsprechenden Künstler_innen unterhalten. Interessant ist das auf jeden Fall! Aber wenn ich nach Hause gehe, habe ich immer noch keine Antworten.

Pfarrdienst, wie geht das?

In der Predigt, die ich heute gehört habe, ging es darum, Dinge geschehen zu lassen. Nicht alles selber tun zu wollen, sondern vertrauen, dass Gott wirkt. Ich bin sehr gespannt auf meine ersten Amtsjahre, in denen ich einerseits dem ein oder anderen Pfarrbild entsprechen werde, in denen ich andererseits selber aussuche, welches Pfarrbild zu mir passt, und in denen ich immer wieder erlebe, dass Pfarrdienst auch heißt, Gott wirken zu lassen.

Trotzdem werde ich mich in der nächsten Zeit viel mit dieser Frage beschäftigen, wie Pfarrdienst geht, was es für mich bedeutet und was für eine Pfarrerin ich bin oder sein will. Ich werde mir einige Pfarrbilder von ganz nah oder mit viel Abstand ansehen und werde viel nachdenken, reden und natürlich hier schreiben.

Gnade verpflichtet

Predigt für den 11. Januar 2015 über Röm 12,1-8

Liebe Gemeinde,

woran erkennt man eigentlich einen Christen? Im Straßenverkehr meistens an dem Fischaufkleber rechts vom Nummernschild, und auf evangelischen Autos klebt direkt daneben: „Ich bremse auch für Katholiken“.
So viel Wahrheit in einem Witz.
So viel Identität in einem Aufkleber.

Nach den Ereignissen der letzten Woche mag es Zufall oder Absicht sein, dass diese Predigt mit einem Witz beginnt (und noch nicht mal mit einem besonders guten, denn es gibt weitaus bessere und klügere und witzigere christliche Witze). Nach den Ereignissen der letzten Woche wissen wir – wieder einmal, dass es Menschen gibt, die Humor und Religion zusammen nicht aushalten können und die niemals über sich selbst, geschweige denn Gott lachen könnten und es auch nicht ertragen, wenn andere es tun. Dass da zweidimensionale Worte und Zeichnungen lebendig werden, zu Angriffen auf die eigene Identität, dass sie verletzen, beschämen und Gott lästern – angeblich. Weil so viel Wahrheit in einem Witz steckt und so viel Identität in einem Glauben und nicht immer das eine vom anderen getrennt wird.

Die Frage, woran man einen Christen erkennt – auch und gerade, wenn sie nicht Teil eines Witzes ist – stellt sich heute mehr denn je. Sie drängt sich auf in diesen Tagen, in denen die Eindrücke der Jahresrückblicke, die uns Funk- und Fernsehkanäle auf Ohren und Augen drückten, noch ganz frisch sind. Die Frage drängt sich auf, wenn wir die Bilder vor unserem inneren Auge vorüberziehen lassen, die die Meldungen des letzten und dieses ganz jungen Jahres mit sich brachten:

Menschenrechtsverletzungen.
Unterdrückung.
Flucht. Flüchtlinge. Männer und Frauen und Alte und Kinder. Menschen, die alles zurücklassen, um nichts zu gewinnen.
Terror und Hass.
Grausamkeiten.
Hinrichtungen.
Krieg im Namen Gottes.
Und Proteste.
Immer wieder Proteste.

Und immer wieder die Frage: Wie verhalte ich mich als Christ dazu? Was wird von mir erwartet? Wozu bin ich verpflichtet? Was soll ich sagen? Was soll ich meinen? Was soll ich tun?
In diesen Tagen drängt sich die Frage nach umfassender Identität auf. Christsein will erkennbar sein. Sichtbar. Hörbar.

Dieses Bedürfnis ist so alt wie das Christentum selbst. Und noch älter.
Es beschäftigte die ersten Christen, die als zwei oder drei in Jesu Namen zusammen kamen.
Die, die sich heute in Gottes Namen versammeln.
Die Christen in den Wohnzimmerkirchen und den Kathedralen.
Auf der Straße und in Krankenhäusern, in Gefängnissen und Kindergärten.
Woran erkennt man einen Christen?

In einem alten Brief, vor fast zweitausend Jahren an Christen in Rom geschrieben, steckt eine umfassende Antwort. Und darin ganz viel Gutes und Wichtiges, wie ein kleines Glaubensbekenntnis, als Appell an alle Christen geschrieben. An die in Rom. Und die in New York und Sri Lanka, in London und Paris, in Berlin, Düsseldorf, Willich und in Neersen.

Ich lese aus dem Brief des Apostel Paulus an die Römer, aus dem 12. Kapitel in der Neuen Genfer Übersetzung: 1 Ich habe euch vor Augen geführt, Geschwister, wie groß Gottes Erbarmen ist. Die einzige angemessene Antwort darauf ist die, dass ihr euch mit eurem ganzen Leben Gott zur Verfügung stellt und euch ihm als ein lebendiges und heiliges Opfer darbringt, an dem er Freude hat. Das ist der wahre Gottesdienst, und dazu fordere ich euch auf. 2 Richtet euch nicht länger nach ´den Maßstäben` dieser Welt, sondern lernt, in einer neuen Weise zu denken, damit ihr verändert werdet und beurteilen könnt, ob etwas Gottes Wille ist – ob es gut ist, ob Gott Freude daran hat und ob es vollkommen ist.
3
Ich rufe daher aufgrund der Vollmacht, die Gott mir in seiner Gnade gegeben hat, jeden Einzelnen von euch zu nüchterner Selbsteinschätzung auf. Keiner soll mehr von sich halten, als angemessen ist. Maßstab für die richtige Selbsteinschätzung ist der Glaube, den Gott jedem in einem bestimmten Maß zugeteilt hat.
4
Es ist wie bei unserem Körper: Er besteht aus vielen Körperteilen, die einen einzigen Leib bilden und von denen doch jeder seine besondere Aufgabe hat. 5 Genauso sind wir alle – wie viele ´und wie unterschiedlich` wir auch sein mögen – durch unsere Verbindung mit Christus ein Leib, und wie die Glieder unseres Körpers sind wir einer auf den anderen angewiesen. 6 Denn die Gaben, die Gott uns in seiner Gnade geschenkt hat, sind verschieden. Wenn jemand die Gabe des prophetischen Redens hat, ist es seine Aufgabe, sie in Übereinstimmung mit dem Glauben zu gebrauchen.
7
Wenn jemand die Gabe hat, einen praktischen Dienst auszuüben, soll er diese Gabe einsetzen. Wenn jemand die Gabe des Lehrens hat, ist es seine Aufgabe, zu lehren. 8 Wenn jemand die Gabe der Seelsorge hat, soll er anderen seelsorgerlich helfen. Wer andere materiell unterstützt, soll es uneigennützig tun. Wer für andere Verantwortung trägt, soll es nicht an der nötigen Hingabe fehlen lassen. Wer sich um die kümmert, die in Not sind, soll es mit fröhlichem Herzen tun.

Alte Worte. So alt wie das Christentum selbst. Und heute besonders wichtig, weil die Fragen dringend sind. Woran erkennt man mich als Christen? Wodurch wird Zugehörigkeit sichtbar? Und wie viel Abgrenzung darf sein?

Paulus hat darauf wie fast immer eine sehr umfassende Antwort. Große Worte werden da genannt: Vom wahren Gottesdienst ist die Rede, vom sich-Gott-zur-Verfügung-Stellen, von der richtigen Selbsteinschätzung und dem angemessenen Umgang mit den eigenen Gaben. Nicht alle dieser Worte erklären sich von selbst. Manche erklären oder ergänzen einander und andere brauchen noch ein bisschen mehr Erklärung. Oder Differenzierung. Denn bei Paulus hängt irgendwie oft alles mit allem zusammen und alles erscheint gleich wichtig. Besonders zwei seiner Gedanken finde ich hier und heute besonders interessant und besonders wichtig.

Der eine ist: Jeder Christ ist anders.
In dem, was Paulus beschreibt, wird Christsein ganz lebendig. Du bist, was du tust. Und was du kannst. Eine Gabe wird Aufgabe. Ein Talent wird Amt. Da wird nicht gefragt, was gebraucht wird. Da wird gefragt, was du mitbringst. Das ist entlastend, denn du musst dich nicht verbiegen. Heute würden wir das vielleicht ressourcenorientiert nennen.
Ich finde es herausfordernd, die Strukturen aus der eigenen Gemeinde damit zu vergleichen. Zu fragen: Wonach suchen wir uns eigentlich unsere Mitarbeiter aus? Die Haupt- und die Ehrenamtlichen? Und wer macht die Vorgaben? Wie viel Freiheit lassen wir einander bei den Überlegungen, wer wofür zuständig ist und wer welche Aufgabe bekommt? Und wo setzen wir einander Grenzen? Wie viele unterschiedliche Gaben haben wir? Und welche sind noch unentdeckt?

Paulus fordert beides: Einheit und Verschiedenheit. Freiheit und Grenzen. Denn so sehr er dafür plädiert, dass jeder seine eigenen Gaben einsetzt, so klar sind seine Vorstellungen von denjenigen Gaben, die für eine christliche Gemeinde unentbehrlich sind – denn Paulus wählt seine Beispiele für gewöhnlich sehr bewusst und mit viel Sorgfalt aus. Zum Beispiel die sieben Gaben. Die ersten vier sind mehr Amt als Tätigkeit, mehr Nomen als Verb.
Prophetie.
Diakonie.
Lehre.
Seelsorge.
Stichworte, die so oder ähnlich in jeder Gemeindekonzeption und jedem Leitbild vorkommen, als Kategorie des Gemeindelebens oder als Kernaufgabe. Aber es bleiben große Worte, große Hauptworte. Lassen wir die Nomen mal Verben werden:
Verkündigen und Botschafter sein. Gottes Nachricht weitersagen. Das ist Prophetie.
Beauftragt werden und helfen. Einen Dienst tun. Das ist Diakonie.
Unterrichten und erklären. Antworten suchen. Das ist Lehre.
Zuhören und kümmern. Einfach nur da sein. Das ist Seelsorge.

Hier passiert Kirche. Hier ist Christsein lebendig. Denn diese Gaben sind unentbehrlich für jede Gemeinde. Und jeder Christ füllt sie auf seine Weise. Denn so konkret diese vier Gaben von Paulus genannt und beschrieben werden, so sehr lassen sie Spielraum für die eigene Persönlichkeit, eigene Vorlieben, eigene Meinungen und eigenen Glauben. Denn diese vier sind so wichtig für eine Gemeinde, dass jegliche Konkretion Vielfalt einschränken würde und Buntheit unmöglich wäre.

Die anderen drei Gaben werden zwar mit den anderen in einem Atemzug genannt, heben sich aber etwas ab: Sie sind mehr Verb als Nomen. Mehr Handlung als Amt. Mehr Tun als Sein. Von materieller Unterstützung ist da die Rede, von Verantwortung für andere (also auch Leitungs- und Verwaltungsaufgaben) und vom Kümmern um die, die in Not sind. Hier wird Christsein konkret und eindeutig. Vor allem aber wird in diesen Gaben Christsein erkennbar. Weil diese und alle anderen Gaben dafür sorgen, dass der Leib Christi lebendig bleibt.

Und weil hier der zweite wichtige Gedanke von Paulus ins Spiel kommt: Gottes Gnade macht es möglich. Gnade, das ist schon wieder so ein großes Wort. Aber den Lesungstext noch im Ohr, wird Gnade ganz plastisch. Gott spricht: Siehe, das ist mein lieber Sohn, an ihm habe ich Wohlgefallen. So schenkt Gott immer wieder Gnade: Siehe, du bist mein liebes Kind, du gefällst mir. Mit allem, was du hast und was du kannst und was du tust und was du lässt. Gottes Gnade verleiht Autorität. Zu tun, was ich kann und zu lassen, was ich nicht tun muss. Denn Gottes Gnade verpflichtet nur zu einem einzigen, nämlich zum Christsein. Und dass es erkennbar ist.

Denn Gottes Gnade macht Vielfalt möglich. Denn wir sind alle Glieder am Leib Christi. Wir sind aufeinander angewiesen. Wir kümmern uns umeinander. Wir tragen Sorge füreinander und tragen einander die Sorgen. Weil die Last dann leichter wird. Wir beten für die, denen die Worte fehlen, wir sitzen bei denen, die sonst niemanden haben. Wir weinen mit den Traurigen und wir lachen mit den Fröhlichen.

Gottes Gnade macht nicht nur Vielfalt, sondern auch Einheit möglich. Als Glieder am Leib Christi sind wir mit Jesus Christus verbunden. Er verbindet uns mit Gott und er verbindet uns Menschen miteinander. Im Abendmahl wird das besonders spürbar.

Aber was werden wir tun, wenn wir diesen Gottesdienst verlassen, wenn wir wieder zu Hause sind, in unserem Alltag, konfrontiert mit Nachrichten und Bildern? Was werden wir tun? Was werden wir dem entgegen halten?
Wie wird unser wahrer Gottesdienst weiter gehen, wenn dieser Gottesdienst hier zu Ende ist? Wie werden wir uns als Christen erkennbar zeigen?
Ich denke und hoffe:
Man wird mehr von uns sehen als einen Autoaufkleber.
Man wird mehr von uns hören als ein Schweigen.
Auf religionsfeindlichen Demonstrationen wird man uns nicht finden.
Von ausländerfeindlichen Kundgebungen werden wir uns fernhalten.
Wir werden beten, wir werden klagen und wir werden loben.
Glauben werden wir und hoffen. Und lieben.
Für Gerechtigkeit werden wir uns einsetzen, auf den Frieden werden wir hoffen und lieben werden wir das Leben.
Wir werden viel weinen und wir werden noch mehr lachen.
Denn wir werden erzählen von Gott, der die Welt so sehr liebt, dass er seinen eigenen Sohn gibt, um sie zu retten.
Von Jesus Christus werden wir erzählen, der den Tod mit dem Leben besiegt hat.
Vom Heiligen Geist werden wir erzählen, der Leben ermöglicht. Und Lachen. Über Witze. Über die klugen und die flachen, über die ironischen und die sarkastischen.

So werden wir erzählen vom dreieinigen Gott, von unserem Glauben, der inspiriert und fasziniert, begeistert und euphorisiert. Vom Glauben, der zum Schmunzeln und zum Lachen bringt. Von Gott, der alle Tränen in seiner Hand sammelt: Die, die aus Wut und Enttäuschung geweint werden genauso wie alle Freudentränen.

So werden wir als Christen erkennbar sein. Man wird uns sehen und man wird uns hören. Jede und jeden von uns mit der eigenen Stimme, dem eigenen Gesicht. Und gemeinsam als Glieder am Leib Christi.

Amen.